Früher war alles besser – echt jetzt?

All dieses Gejammere in Richtung „früher war alles besser“ kann ich wirklich nicht mehr hören. Erzählten uns das nicht schon unsere Großeltern, die damit seltsamerweise die Zeit des Dritten Reiches, den Zweiten Weltkrieg und die Zeit danach meinten, als alles in Trümmern lag und die Nahrungsmittel knapp waren?

Nun höre ich es ständig von etwa Gleichaltrigen und etwas Älteren, kann es jedoch nicht nachvollziehen, wo denn bitteschön „alles“ besser war. Vieles war anders, ja. Aber alles besser???  Manches war besser, manches auch absolut nicht.
Heute wird ein Riesenaufstand veranstaltet, wenn mal etwas an der Wasserleitung gemacht wird oder ein Stromausfall ist. Ich kann mich erinnern, dass das als Kind öfter der Fall war. Meine Mama daran, dass es davor sogar noch öfter war. Und davor gab es oft nicht mal einen Anschluss… Das TV-Programm war besser? Echt jetzt? Also in den 1990ern gab es eine Talkshow-Schwemme, was war daran besser? Die Arbeitslosigkeit war geringer? Teilweise auch nicht, da müssten wir schon zurück in die 1960er.
Ach so, heute gibt es plötzlich so viele Krieg und Konflikte, Terrorismus und und und. Davor etwa nicht? Nur zur Erinnerung: Wir in Europa (und nicht mal ganz Europa!) können uns glücklich schätzen, dass wir seit 1945 keine offenen Kriege mehr hatten. Aber erinnert sich einer noch daran, dass wir einen kalten Krieg hatten? Wir haben es besonnenen Menschen wie Stanislaw Petrow zu verdanken, dass wir heute überhaupt „früher war alles besser“ jammern können. Ohne solche Menschen gäbe es uns ganz schlicht und einfach nicht! Ich bin aufgewachsen mit Zeichentrickfilmen wie „Wenn der Wind weht“ oder Romanen wie Gudrun Pausewangs „Die letzten Kinder von Schewenborn“. Ja, klar, war ja alles besser… Das Attentat auf dem Münchener Oktoberfest sowie weitere Anschläge gab es auch nicht. Genauso wenig wie es vor Ankunft der Flüchtlinge Vergewaltigungen, Gewalt etc. gab. Und, hach, früher gab es nie Selbstmorde! Und die heutige Jugend… Jaja, darüber haben schon unsere Eltern und Großeltern geklagt bis zurück zu den Römern.

Wacht auf!!!

Wir Menschen neigen dazu, uns an Gutes schnell zu gewöhnen und es als selbstverständlich anzusehen. Wir neigen dazu, wenn keine großen Katastrophen kommen, schon Kleinigkeiten zum Drama zu erheben, weil wir scheinbar unser Glück selbst nicht glauben können. Weil wir den Hals nie voll kriegen, immer mehr wollen wie kleine Junkies. Wehe, einer hat mehr, dann sind wir der festen Überzeugung, dass alle mehr haben und wir hinterherhinken. Sogar bei Krankheiten versuchen sich einige gegenseitig zu übertrumpfen, wenn das mal nicht wirklich krank ist! Wir verklären die Vergangenheit, weil wir Veränderungen von Natur aus ablehnen, und vergessen, dass eben nicht alles gut war. Nur halt anders.

Das einzige wirkliche Problem, das wir verwöhnten Europäer haben, ist unsere Blindheit gegenüber den wahren Problemen wie die Zerstörung unserer Erde durch unser „mehr, mehr, mehr“ (nein, das sind eben nicht nur „die da oben“ und die „bösen Firmen“ – WIR kaufen den Kram und beschweren uns, dass wir das alles nicht geschenkt bekommen, wollen also noch mehr an Überfluss und Luxus zu immer geringeren Preisen), unsere Rücksichtslosigkeit, die wir selbst gar nicht bemerken, und unser selbst fabrizierter Stress, weil wir schon den Kindern vorleben, dass wir permanent für jeden Furz erreichbar sein und uns wichtig tun müssen statt uns digitale Auszeiten zu nehmen und einfach nur mal miteinander reden, spielen, Zeit verbringen.
Wir haben ständig Angst, zu kurz zu kommen und etwas zu verpassen, dabei verpassen wir die schönen Momente des Lebens.

Heute schon mal eines der letzten bunten Blätter angesehen? Nein? Dann sperre deine Augen auf!